Mitmenschlichkeit ? Moment mal. Lesen Sie denn keine Zeitungen und schauen Sie nicht fern?
Die Arbeitslosigkeit erreichte Ende 2017 ihren niedrigsten Stand seit 1990.
Wir haben noch nie so viele erwerbstätige Menschen gezählt.
Die erfolgreiche Reduzierung der Langzeitarbeitslosigkeit ist nur eine Frage der Zeit.
SPD und CDU/CSU bekennen sich zum Ziel der Vollbeschäftigung.
Zahlen, Daten, Fakten. Heureka! Wir haben ganze Arbeit geleistet …
So oder ähnlich wird unser Erfolg in der Arbeitsverwaltung bewertet.
Nicht, dass ich nicht gern für meine Arbeit Wertschätzung erfahre.
Aber unter uns … die Wirtschaftsdaten bestimmen unsere Zahlen.
Denn die statistischen Kennwerte und Verfahren korrelieren mit denen aus der Wirtschaft.
Und sie sind ursächlich miteinander verknüpft.
Die Prophezeihung „Geht es der Wirtschaft gut, dann geht es den Menschen gut” erfüllt sich selbst.
Das System von Definitionen, Deutungen und Berechnungen produziert selbständig seine Erfolge.
Es harmoniert fast vollständig mit den politischen Vorgaben.
Ein Beispiel: Wir arbeiten nach einem sogenannten Poolkonzept.
Das heißt, wir sollen eine bestimmte Anzahl unserer Kunden sehr engmaschig kontaktieren oder einladen.
Die uns zur Verfügung gestellten Listen zur Auswahl dieser Kunden sind auf der Grundlage von bestimmten Kriterien erstellt.
Dauer der Arbeitslosigkeit, Qualifikation und vieles mehr.
Diese Kriterien korrelieren mit Kennziffern, die zur Erfolgsmessung unserer Aktivitäten verwendet werden.
Arbeitslosenzahlen, Integrationsquote und vieles mehr.
Leider sind diese Listen aber für unsere tägliche Arbeit kaum zu gebrauchen.
Also wählen wir nach eigenem Gutdünken die Kunden für unseren Pool aus.
Denn wir wollen unsere Geschäftsführung nicht enttäuschen.
Und wir sind weitgehend folgsame Mitarbeiter, die tun was man ihnen sagt.
Tatsächlich gibt es Kunden, mit denen ich in bestimmten Phasen unserer Zusammenarbeit häufig in Kontakt stehe.
Die Gründe dafür sind sehr vielfältig.
Besonders in Phasen von Veränderungsprozessen pflege ich einen nicht nur häufigen, sondern vielfach auch engen Austausch mit meinen Kunden.
Die meisten von ihnen begleite ich auf dem Weg zur ihrer ganz persönlichen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.
Auch wenn meine Chefs von einer Integrationsplanung sprechen.
Und die oben genannten Ziele meinen, die ihnen von der Politik vorgegeben werden.
Und dann nehme ich noch Kunden in meinen Pool auf, die mir “meine Zahlen bringen” werden.
In der Regel sind das diejenigen, die mir faktisch am wenigsten Arbeit machen.
Weil sie gute Voraussetzungen für den Eintritt ins Erwerbsleben mitbringen.
Und weil sie von mir schlichte Informationen abfragen, damit aber sehr selbständig agieren.
Auch kommen immer ausreichend Kunden nach, die für den Erfolg meiner Statistik sorgen.
Zur Erreichung der geschäftspolitischen Ziele würde mir ein Bruchteil meiner Arbeitszeit ausreichen.
Daher stellt sich berechtigterweise die Frage, was ich sonst auf der Arbeit mache. Nun ja.
Ich übe mich in Mitmenschlichkeit.
Aber eines nach dem anderen.
Der Verwaltungsapparat verschlingt einen erheblichen Teil meiner Arbeitszeit.
Die mächtigen Datenverarbeitungssysteme verlangen pausenlos nach meinen Eingaben.
Da kann auch meine Geschäftsführung nichts für.
Aber leider macht sie mir ihrerseits das Arbeitsleben zusätzlich schwer.
Denn sie will fortwährend Bestimmer darüber sein, wie ich arbeiten soll.
Um bei meinem Beispiel zu bleiben:
Die Geschäftsführung verlangt die Kennzeichnung von Poolkunden.
Ich bediene die Vorgabe, weil ich ein loyaler Mitarbeiter bin.
Aber der Pool ist für meinen statistischen Erfolg vollkommen unerheblich.
Nicht durch häufige Kontakte mit mir nehmen meine Kunden Erwerbstätigkeit auf, sondern weil sie eine Umschulung abgeschlossen haben.
Oder bei einem interessierten Arbeitgeber ein Praktikum gemacht haben.
Oder engagierte Mitarbeiter von Maßnahmeträgern haben sie motiviert, begleitet und vermittelt.
Außerdem werden billige Arbeitskräfte allerorten gesucht und gefunden.
Mein Dazutun hält sich folglich in überschaubaren Grenzen, verlangt mir eher lexikalisches Wissen ab und weder Empathie noch vertrauensvolle Zusammenarbeit.
Wenngleich Mitmenschlichkeit von unseren Kunden generell geschätzt wird.
Dieser Teil der Aufgaben sorgt letztlich für meinen Anteil am Erfolg der Kennzahlen.
Es gibt viele Vorgaben, die ich in ähnlicher Weise bediene.
Gelingt mir das zügig, dann entstehen Freiräume.
In denen kann ich als Begleiter meiner Kunden tätig werden.
Meine Chefs flunkere ich ein wenig an und nenne das Integrationsarbeit.
In Wirklichkeit geht es um gesellschaftliche Teilhabe, Lebensbewältigung, persönliche Entwicklung oder einfach Zufriedenheit und ein wenig Lebensglück.
Ich habe in der vergangenen Woche 3 Erstgespräche an einem Tag gehabt.
Alle waren von schwerwiegenden Lebenserfahrungen und Schicksalen geprägt.
Ich erlebte mich an der Grenze, wo aus meinem Mitgefühl Mitleid wird.
Das ist im Berufsalltag unseres Jobcenter keine Seltenheit.
Denn wir begegnen in unseren Büros den Millionen, die nie gemeint sind, wenn es um unsere Erfolge geht.
Natürlich lasse ich mich von der Geschichte meiner Kunden berühren.
Ja, ich ermuntere meine Gesprächspartner sogar dazu, mich einzuweihen.
Es hat wieder einmal nicht vieler Fragen bedurft … wie so oft.
Die Karten kommen in unserem Job so überaus schnell auf den Tisch.
Und wenn ich Mitleid fühle, dann kann kein Zweifel mehr daran bestehen, dass die Geschichte mich erreicht hat.
Und dass sie selbstverständlich nicht spurlos an mir vorübergeht.
Immer wieder sind Begegnungen mit meinen Kunden von so existenzieller Natur.
Und ich schätze das, wie offen und ungeschminkt sie mir ihre Wahrheit erzählen.
Unter uns Kollegen wünschen wir uns, auch unsere Vorgesetzten mögen sich dieser Wirklichkeit stellen.
Sich von ihr berühren lassen.
Mitmenschlichkeit erfahren.
Dabei würden sie davon profitieren.
Und vielleicht würde ihre Sicht auf ihren Verantwortungsbereich und die Menschen bereichert werden.
Hospitationen unserer Vorgesetzten werden durchaus von Mitgefühl und Respekt vor unserem Tagesgeschäft begleitet.
Warum ist dann nur diese Erfahrungswelt so wenig mitteilbar in Leitungsrunden, Gremien, Konferenzen und auf der politischen Bühne?
Weil Mitmenschlichkeit dort (noch) keine Rolle spielt?
Gibt man sich nach außen emphatisch, dann handelt es sich um klinisch gereinigte Worthülsen, denen auch nur der Hauch von Glaubwürdigkeit zu fehlen scheint.
Wie also dranbleiben, sich nicht unter kriegen lassen, weiterhin sein Ding machen?
Ich glaube an die Kraft, die eine gewachsene Haltung mit sich bringt.
Solange wir uns unseren Kunden, ihren Anliegen und deren Entwicklung verpflichtet fühlen, haben wir Orientierung.
Und ein sehr unmittelbares Maß für die Einschätzung dessen, was uns gelingt.
Dabei führt der Weg oft über Zweifel, Irrtümer, Konflikte und Konfrontationen.
Aber nicht selten erhalten wir (am Ende) ein Geschenk.
Da kommt uns dann Dankbarkeit für Mitmenschlichkeit entgegen. Das ist deshalb so wertvoll, weil …
Wir mit unseren Kunden im selben Boot sitzen.
Je mehr ich davon überzeugt bin, desto häufiger sehe ich diese Haltung auch bei den Kollegen aus meinem persönlichen Umfeld.
Ich mag das und freue mich darüber.
Denn diese Gewissheit lässt uns in der Auseinandersetzung stark werden.
Sofern die Mitmenschlichkeit unser Verhalten leitet, werden wir weniger anfällig für politische Verklärungen und Manipulationen.
Ein Psychoanalytiker erzählte mir von seinem Mitgefühl mit der Berufsgruppe der Arbeitsvermittler.
Er war mit deren Erfahrungen und Belastungen aus Therapien vertraut.
Er bedauerte uns und unsere Kunden für die Bedingungen, die vielen von uns die Mitmenschlichkeit rauben.
Und für die Vorgesetzten, die sich dem Dienstherrn mehr verpflichtet fühlen als der Mitmenschlichkeit.
Jeder von uns kennt die Wirklichkeit des Jobcenter-Alltags.
Seit Jahren erzählen Kollegen anonym ihre Geschichten jungen Journalisten.
Diese Geschichten erscheinen sogar in den Leitmedien, zum Beispiel in der SZ oder im Spiegel.
Und Leser sind tatsächlich betroffen.
Noch betäubt aber der einschläfernde Konsens über unseren herrschenden Arbeitsbegriff, Hartz IV und unser alternativloses Wirtschaftssystem den Veränderungswillen.
Es ist tatsächlich nicht leicht, sich gegenüber der Allgegenwart von Alternativlosigkeit immer wieder zu behaupten.
Müsste ich in einem Team von Kollegen arbeiten, die alle auf der anderen Seite stehen, ich wäre verloren.
Glücklicherweise gibt es in einer Gruppe von Menschen immer jemanden, der die eigenen Gedanken teilt.
Und wenn man Glück hat, dann gibt es viele und es werden mehr.
Manchmal sind sie still, die Verbündeten, aber sie sind da und … sie sind wach.
Vielleicht äußern sie sich nicht in großer Runde, aber sie teilen viele Gedanken und Haltungen.
Immer wieder müssen wir uns dessen versichern, was unsere Arbeit wertvoll macht und wie wir sie auch unter widrigen Umständen gelingen lassen können.
Ich nenne sie die 4 elementaren Strategien für wirksames Handeln als pAp (persönlicher Ansprechpartner):
- Wachsamkeit
- Mitmenschlichkeit
- Mut zur Lücke
- Fünfe mal gerade sein lassen
Wachsamkeit sollte uns im politisch geprägten Umfeld des Jobcenters immer begleiten.
Sie fördert unsere Urteilskraft insbesondere dann, wenn wir glauben sollen, nach modernen Managementprinzipien geführt zu werden.
Nehmen wir als Beispiel Transparenz.
Auch eine äußerst hierarchisch organisierte Institution wie das Jobcenter will modern führen.
Transparenz klingt nach flacher Hierarchie, wertschätzendem Umgang und verströmt den modernen Geist von Agilität und Kommunikation auf Augenhöhe.
Fragt man Kollegen nach ihren Wahrnehmungen, dann hört man aber nicht selten:
Transparenz soll die Folgsamkeit der Mitarbeiter sicherstellen.
Sie vermittelt uns das Gefühl der Teilhabe an Überlegungen, die bei Entscheidungsprozessen unserer Chefs wirksam werden.
Wir glauben, da wir Zeugen dieser Prozesse sein dürfen sind wir auch eingebunden.
Das kann aufrichtig so gemeint sein, dürfte sich aber nur in den Situationen bewähren, die keinen Konfliktstoff bergen.
Aber erst wenn es eng wird und die institutionellen Machtverhältnisse auf dem Spiel stehen, dann wird sich zeigen, zu welcher Transparenz Führung und Geführte fähig sind.
Führungsaufgaben in Verwaltungen bedürfen der absoluten Loyalität gegenüber Vorgesetzten.
Insbesondere wenn die Karriere unserer Vorgesetzten nach weiterer Entwicklung verlangt.
Daher ist es wohl ratsam, wach zu sein und es zu bleiben.
Ohne dabei misstrauisch zu werden. Ja, das ist wohl die Kunst.
Mitmenschlichkeit ist eine unverzichtbare Haltung für Menschen, die sich das Leben in einer friedlichen Welt wünschen.
Für den Umgang mit unseren Kunden ist sie eine grundlegende Voraussetzung.
Trotz der Rahmenbedingungen einer Sozialgesetzgebung, die im Zusammenhang mit Sanktionstatbeständen an offenen Strafvollzug erinnert.
Nichts und niemand fordert von uns die Durchsetzung von Sanktionen, wenn wir diese für unwürdig erachten.
Denn es liegt an uns, Sanktionstatbestände zu identifizieren.
Niemand verlangt von uns die Vollstreckung von disziplinierenden Maßnahmen.
Denn wir entscheiden selbst, mit welchen Methoden wir eine sogenannte Integrationsplanung mit unseren Kunden umzusetzen suchen.
Kein Mensch zwingt uns zur Demonstration von Macht gegenüber Menschen, mit denen wir in einem Boot sitzen.
Mitmenschlichkeit beweist sich nicht in Form freundlicher Gesten.
Sie wird erst dann zu einem teuren Gut, wenn sie uns etwas kostet.
Und je reicher wir sind, desto mehr können wir doch davon geben, nicht wahr?
Möglichst ohne unsere Wachsamkeit aufzugeben.
Denn auch die Autorität begegnet uns zuweilen mit der Geste der Mitmenschlichkeit.
Mut zur Lücke
Die wenigsten Kollegen prüfen zur Entscheidungsfindung bei Anträgen sämtliche ermessenslenkenden Weisungen, Handlungsempfehlungen, Geschäftsanweisungen und gesetzlichen Rahmenbedingungen.
Wissen wir gerade mal nicht Bescheid, wie ein Antrag zu entscheiden ist, dann rufen wir ins benachbarte Büro.
„Wie ging das nochmal mit dem ESG?” oder
„Dürfen wir das fördern?”
Die Antwort des vertrauenswürdigen Kollegen ist ausreichend und wir haben die Entscheidung vom Tisch.
Vielleicht wollen wir aber hier und da mal mehr als den Dienst nach Vorschrift machen.
Es gibt immer wieder ungewöhnliche Möglichkeiten, Kundenwünsche zu realisieren.
Manchmal kennt jemand jemanden, der eine Leistung unter bestimmten Bedingungen erhalten hat.
In dem einen Fall handelt es sich vielleicht um ein Missverständnis.
Aber in dem anderen Fall eröffnen sich uns möglicherweise kreative Vorgehensweisen.
Und es gibt erstaunlich viele Kollegen, die bereit sind, mit uns etwas möglich zu machen.
Gesetzliche Rahmenbedingungen und Auslegungen zu prüfen.
Es ist wahr: „Das geht halt nicht” ist als Antwort schnell ausformuliert und macht wenig Arbeit.
Allerdings macht es auch wenig Freude und dient nicht als Geschichte, die man erzählen kann.
Also warum nicht mal das Unübliche wagen und das Gespräch mit denen suchen, die die Entscheidung dann mittragen müssen.
Man findet Verbündete im Geiste und erfreut sich an der erfolgreichen Umsetzung eines kreativen Impulses.
Und man wird belohnt mit der Dankbarkeit eines zufriedenen Kunden.
Es scheint oft so, als hätten wir kaum Optionen zum Handeln, weil alles reglementiert ist.
Dabei finden sich immer wieder rechtskonforme Auslegungen, Begründungen und Maßstäbe, die uns Entscheidungsspielräume eröffnen.
Natürlich kostet das mitunter Zeit und Engagement.
Woher nehmen, wenn nicht stehlen? Das ist der Punkt.
Vollständige Erfüllung aller auch noch so umständlicher Kontrollvorgaben hat einen Preis, den letztlich der Kunde zahlen muss.
Weil ich keine Zeit mehr habe für das Investment in außergewöhnliche Lösungsansätze.
Deshalb muss ich die Zeit dort stehlen, wo es niemandem schadet.
Ich lasse bei den mir unbedeutenden Vorgängen gern mal Fünfe gerade sein.
Das kann der unscharfe Inhalt von Eingliederungsvereinbarungen sein.
Auf die würde ich mich zur Durchsetzung meiner Absprachen mit Kunden ohnehin nicht berufen oder sie gar zur Vollstreckung von Sanktionen nutzen wollen.
Entweder ich konnte mit meiner Argumentation anregen, motivieren und überzeugen oder eben nicht.
Und dann hilft auch keine schriftliche Vereinbarung.
Oder das kann meine Sorgfältigkeit bei der Dokumentation von Vorgängen sein, die in keinem angemessenen Aufwand zu ihrem Nutzen stehen.
Dabei lasse ich natürlich nichts auf den Beratungsvermerk nach dem Gespräch mit einem Kunden kommen.
Und vieles andere mehr. Das spart enorm viel Zeit.
Alle wissen, würde nicht jeder von uns mal Fünfe gerade sein lassen, müsste das Verwaltungssystem an der Fülle und dem Ausufern seines Regulierungswahns ersticken.
Wer kein unglücklicher und noch viel weniger ein kranker Mitarbeiter dieser Behörde werden will, der muss Wege finden, sich mit Kollegen solidarisieren und …
Nie die Achtung vor der Menschlichkeit verlieren.
Fazit
Die (Bundes)Politik macht der Arbeitsverwaltung Vorgaben über ihre Ziele.
Die Arbeitsverwaltung ist hierarchisch organisiert.
Sie bricht die Ziele herunter auf die örtlichen Einrichtungen.
Die Geschäftsführungen in den Jobcentern machen den Mitarbeitern Vorgaben.
Geschäftspolitische Ziele werden durch statistische Artefakte erreicht.
Wir können aber sehr viel mehr erreichen als geschäftspolitische Ziele.
Wir können unseren Kunden wertvolle Begleiter sein.
Mitmenschlichkeit macht uns dabei zu einem starken Partner von Kunden und Kollegen.
Was macht Euch die Arbeit wertvoll?
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