Meiner liegt aktuell bei 1 : 444. Eins steht für mich, 444 steht für die Anzahl der Personen, für die ich „zuständig” bin.
Das darf doch wohl nicht wahr sein?
Kollegen aus dem Arbeitsamt 2000 kennen da noch ganz andere Verhältnisse.
Nein, es überfordert uns nicht, denn wir finden immer Wege.
Wir würden auch mit 1000 Kunden zurecht kommen. Wir sind wachstumsorientiert. Unsere Zahlen weisen nach oben.
Jüngst haben es erst die Wirtschaftsweisen wieder bestätigt.
Wir schaffen nicht nur das, sondern mehr. Wir sind Teil eines großartigen Aufschwungs.
Ich will mehr Kunden, denen ich die Segnungen unserer modernen Arbeitsmarktpolitik bringen kann.
Nicht bis zum Jahr 2025 warten. Ich will Vollbeschäftigung jetzt.
Kennt Ihr die geschickten Feinmotoriker, die Teller auf dünnen Stäben kreisen lassen?
Mit ihren unermüdlichen Manipulationen dafür sorgen, dass die Teller in Bewegung bleiben?
Ich will etwas bewegen. Will meine Kunden aktivieren.
Mit einer geschickten Handbewegung platziere ich einen nach dem anderen in das Gravitationsfeld meiner Förderkette und bringe sie in Bewegung.
Nie mehr sollen sie hinaus geschleudert werden, niemals in die Verlegenheit der Bewegungslosigkeit geraten.
Mit ganz kleinen Anstößen sorge ich für die richtige Geschwindigkeit, in der sie sich um sich selbst drehen und damit im Gleichgewicht bleiben.
Mein Betreuungsschlüssel ist nicht einfach eine Schnapszahl, an der ich leide und mich beklage.
Nein, er ist eine Verheißung für die Zukunft, in der ich mich neuen Herausforderungen stelle.
Es ist nur eine Zeit der Vorbereitung. Manchmal kann ich es kaum noch erwarten.
Die Vollbeschäftigung wird meine Tätigkeit als Integrationsfachkraft überflüssig machen.
Arbeitsmarktexperten werden dafür werben, dass jeder Berufstätige einen persönlichen Trainer zugewiesen bekommt.
Denn viele Aktivitäten der modernen Arbeitskraft müssen beaufsichtigt werden, damit ihre Funktionen erhalten werden können.
Ernährung, Sport, Psychohygiene sowie Flexibilität und Freude sind Bestandteile der künftigen Arbeitswelt.
Die Integrationsfachkräfte von heute sind die persönlichen Coaches in der NWO und der Arbeitsverwaltung von morgen.
Lebenslanges Lernen steht auf dem Programm.
Aus einer Dynamik neoliberaler Umverteilungsorgien wird eine Vorteilsübersetzung für den modernen Arbeitnehmer.
Oder vielmehr für den, der seine Arbeitskraft gibt. Also den Arbeitgeber?
Egal, denn es gehört zum lebenslangen Lernprozess sowohl auf der einen als auch auf der anderen Seite zu stehen.
Nein, in der Regel nicht gleichzeitig, sondern nacheinander.
Ich bin weit entfernt davon, dies kritisch zu betrachten. Wie las ich neulich noch so treffend?
„Es sind nicht die Dinge, die uns beunruhigen, sondern die Meinungen, die wir von den Dingen haben.”
Zurück zum Ausgangspunkt, dem Betreuungsschlüssel.
Es sind nicht die 444 Kunden, die mich beunruhigen.
Es ist meine Meinung, dass es unmöglich ist, so viele Menschen zu begleiten und zu betreuen.
Undzwar nicht nur nach den Best Practices des BeKo-Modells (meine Kollegen wissen Bescheid, alle anderen gucken hier).
Nein, ich will nicht unfair sein.
Denn die meisten meiner Kunden benötigen auch gar kein solches Beratungs-, Förder- oder Dienstleistungsangebot.
Ach was! Also nicht? Was benötigen sie denn sonst? Na ja, das würde jetzt den Rahmen sprengen.
Ein Blick in die Ausbildungsordnung zum Verwaltungsfachangestellten schafft Klarheit über meine Arbeitsinhalte:
Arbeit im Büro. Akten. Statistiken. Zahlen. Formulare. Gesetze. Verwaltung. Bürgerverkehr.
Nein, auch wieder nicht ganz richtig.
Der Verwaltungsfachangestellte ist vielmehr der ideale Mitarbeiter aus der Sicht des Managements eines Jobcenters.
Nein liebe Vorgesetzte, diesen Schuh möge sich bitte nur derjenige anziehen, der ihm auch passt.
Tendenziell dürfte der Schuh besser passen, …
- je höher wir in die Führungshierarchie der Arbeitsverwaltung blicken und
- je häufiger die Führungskraft das Gelassenheitsgebet zur Beschwichtigung fehlender Handlungsspielräume bemüht.
Nun ja liebe Vorgesetzte, man muss halt mit dem Personal arbeiten, das man zur Verfügung hat.
Und das sind eben in den seltensten Fällen Verwaltungsfachangestellte.
Viel häufiger sind es Quereinsteiger ohne Verwaltungserfahrung.
Dafür aber mit völlig anderer Berufsausbildung und/oder (Hochschul) Studium sowie vieljähriger Berufs-, mitunter auch Führungserfahrung:
Architekten, Städteplaner, Betriebswirtschaftler, Juristen, Sozialpädagogen, Psychologen und viele mehr.
Die Stellenbeschreibung sieht eben eine (Fach)Hochschulausbildung vor.
Und da kann man nichts machen. Doch, kann man: Gelassenheitsgebet.
Was aber immer gut geht, das sind Vorgaben. He he, warum sollen es die Mitarbeiter besser haben als ihre Vorgesetzten.
Müssen wir eben schlucken. Machen wir ja auch.
Selbst wenn es eine sehr fette Kröte ist.
Und von diesen Tierchen gibt es nach meiner Einschätzung zunehmend mehr Exemplare.
Doch ich schweife wieder ab. Schließlich geht es um den heiligen Betreuungsschlüssel.
Ohne dass ich danach gefragt oder gar darum gebeten habe, werde ich (vielleicht, voraussichtlich, wahrscheinlich, an dem Problem wird mit Hochdruck gearbeitet) Entlastung erfahren.
Kühne Schätzungen gehen von einer Reduzierung der Anzahl meiner Zuständigkeiten um 50 oder mehr Personen aus.
444 Kunden, oder 390 Kunden oder 200 Kunden …
Der Dienstleister, Berater und Coach in mir frohlockt über die gewonnene Zeit, die der Verwaltungsapparat mir schenkt.
Weil ich jede der gewonnenen Minuten in die Vermittlung arbeitsuchender Hilfebedürftiger investieren kann.
Nun ja, das wäre eine offizielle Lesart.
Ein mir nahestehender Kollege würde sagen, dass er dann vielleicht nicht mehr ganz so viel schummeln muss.
Um all die statistischen Ergebnisse zu erzielen, die die Qualität unserer Arbeit abzubilden vorgeben.
Wie ist denn nun das wieder zu verstehen?
Nun ja, siehe oben, die werten Kollegen wissen natürlich, worüber mein mir nahestehender Kollege sprach.
Alle anderen gucken hier. Aber wie immer will ich nicht unfair sein.
Denn solange die Ergebnisse stimmen, dürfen wir ja vieles tun und lassen.
Nein, natürlich nicht erklärtermaßen, aber die Ergebnisse stehen im Vordergrund.
Und jedes erreichte Ergebnis ist doch eine Bestätigung für die Wirksamkeit der Steuerung oder etwa nicht?
Was? Wir erzielen möglicherweise unsere Ergebnisse TROTZ der einengenden und reglementierenden Steuerung.
Die den interessierten, engagierten und motivierten Mitarbeiter in ein schlank geknüpftes Korsett des Denkens und Handelns steckt?
Das sind doch arg polemische Fragen! Was ich denn damit schon wieder sagen will?
Pardon, erneut bin ich abgeschweift. Der Betreuungsschlüssel ist es doch, der unser Maßstab für (Un)Möglichkeiten sein soll.
Ob ich das sagen darf, dass er eigentlich von untergeordneter Bedeutung ist?
Nun ja, ich erlaube es mir mal deshalb, weil ich mein Anliegen für ein ehrenhaftes halte.
Oh Gott oh Gott, jetzt lobe ich mich auch noch für meine steilen Thesen und rechtfertige sie mit hehren Moralvorstellungen.
Dabei sind wir hier doch nicht bei Wünsch’ Dir was!
Folge mir nur noch ein wenig lieber Leser. Was ich sagen will ist dies:
Ich habe begrenzte Ressourcen, die ich zum Wohle der Menschen verwende, für die ich zuständig bin.
In der Regel wirken sich meine Aktivitäten so aus, dass ich damit die statistischen Kennzahlen bediene.
Daran wird meine Arbeitsleistung (natürlich auf der Grundlage des Teamergebnisses) gemessen.
Die dafür erforderlichen Messungen werden gewonnen aus den Datensätzen, die wir Mitarbeiter pflegen.
Durch unsere Dokumentationen, Häkchen in Kontrollfeldern und andere Eintragungen in den Datensätzen bediene ich das Controlling.
Im Gegenzug meldet mir das Controlling die Qualität meiner Datenpflege zurück.
Viel Wert wird auf die sogenannten Mindeststandards gelegt.
Mindeststandards beschreiben die minimalen Anforderungen an die Qualität der Datensätze, für die ich zuständig bin.
Habe ich viele Datensätze zu betreuen, dann benötige ich mehr Zeit für die Pflege dieser Datensätze.
Ich kann dann vielleicht andere Kennzahlen nicht oder nur ausreichend bedienen (was ja im wahrsten Sinne des Wortes ausreichend ist).
Und schon gar nicht kann ich mich dann angemessen (sagen wir mal im Sinne des BeKo-Modells) um die Menschen kümmern.
Welche Menschen? Ja genau. Die Menschen, die durch diese Datensätzen repräsentiert werden und vielleicht sogar etwas von mir wollen.
Gleichwohl gelingt es mir und all meinen Kollegen aber schon seit Jahren, ein Gleichgewicht herzustellen.
Zwischen den Anforderungen des Controlling und den Aufträgen, die mir die Menschen mitteilen.
Vermutlich ist das der Grund dafür, dass ich dem Personenkreis aus meiner Zuständigkeit gerne reinen Wein einschenke.
Denn ich werde mich um diejenigen Menschen kümmern, die mir signalisieren, dass sie etwas von mir wollen.
Die mich als einen Gesprächspartner betrachten, dem sie früher oder später etwas anvertrauen wollen.
Oftmals mit dem Bedürfnis, sich von etwas zu entlasten.
Häufig weil sie merken, dass ich Interesse an ihrem Schicksal habe.
Ja es ist wahr. Zum Fordern bleibt mir nicht die Zeit.
Das trifft sich gut, da ich diesen Bereich des SGB II für seinen verwerflichsten halte.
Doch auch das ist ein anderes Thema und ich will ja nicht schon wieder abschweifen.
Obwohl es mich reizt, die Sanktionsgesetzgebung mal in einen größeren Zusammenhang zu stellen.
Und sie vor dem Hintergrund des Grundgesetzes und der Würde des Menschen zu betrachten.
So wie es übrigens gerade auch das Bundesverfassungsgericht mit dem Vorlagebeschluss des Sozialgerichts Gotha tut.
Oder die Sanktionsgesetzgebung vor dem Hintergrund ihrer pädagogischen und psychologischen Sinnhaftigkeit zu betrachten.
Oder sie im Zusammenhang mit dem ihr zugrunde liegenden Menschenbild zu analysieren.
Nein, ich kann mich beherrschen und tue das auch.
Kein weiteres Wort darüber. Jedenfalls nicht an dieser Stelle.
Fazit:
Wir können mit Fug und Recht belegen: Der Betreuungsschlüssel tangiert uns peripher!
Zumindest dürfte er das tun.
Denn diese Kennzahl wird nicht über die Qualität unserer Arbeit am Menschen entscheiden.
Oder wie seht Ihr das?
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