Wir kennen die von den sogenannten Versorgungsämtern auf Antrag vergebenen Grade der Behinderung von 10-100 für körperliche, geistige, sinnliche, organische und sonstige Behinderungen sowie zusätzliche Merkzeichen, die auf besondere Privilegien hinweisen. Sozialrecht, Arbeitsrecht, Wirtschaftsrecht, Strafrecht und Verkehrsrecht, Verordnungen und aberhunderte von Bestimmungen dienen dem Schutz von behinderten Menschen Personen und sollen auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens für Teilhabe und Gleichberechtigung sorgen.
Behinderung in der alten Welt
Dieses Konzept von ‘Nachteilsausgleich’ und Privilegierung im Zusammenhang mit finanziellen Belastungen, Barrieren im öffentlichen Leben und insbesondere begrenzter ‘Leistungsfähigkeit’ vor dem Hintergrund eines materialistisch geprägten Menschenbildes ist eng mit unserem Bedürfnis nach ausgleichender Gerechtigkeit und nach Gleich-Stellung des Behinderten verknüpft. Behinderung ist Ausdruck einer zufälligen Laune der Natur, Folge eines unglücklichen Unfalls oder sie wird als komplexes Phänomen, teils anlage- teils umweltbedingt definiert sowie krankheitsbedingt beschrieben.
Der Horizont unserer Konzepte von der Welt bestimmt die Weite oder Enge unseres Blicks und die Tiefe der Ergründlichkeit unserer Fragen nach einer Einordnung unser aller definitiver Unterschiedlichkeiten. Die individuelle Behinderung verbinden wir in unserem Alltagsbewusstsein mit Nachteilen, manchmal mit sogenannten Inselbegabungen, aber für gewöhnlich ordnen wir sie entlang unserer normierten Maßstäbe von Funktionsfähigkeit und Passung in unsere Vorstellungen von Menschen- und Gesellschaftsmodellen ein. Wir kommen später noch einmal auf unser gewöhnliches Wahrnehmen, Denken und Handeln in diesen Zusammenhängen zurück.
Behinderung in der neuen Welt
Die kluge und von gesundem Menschenverstand geprägte Umgangssprache kennt beispielsweise ein anderes Konzept von Behinderung. Dass hier nicht der geistlose, herablassende und ignorante Gebrauch von Schimpfwörtern zu selbstaufwertenden Zwecken oder der Kompensation von Ärger und Wut gemeint ist, das dürfte der geneigte Leser bereits ahnen, aber ich will die Konkretisierung der Andersartigkeit nicht schuldig bleiben, wann denn der gesunde Menschenverstand von Behinderung spricht und warum dies aus politischer Korrektheit oder vielmehr zur Rettung unserer schmalspurigen Konzepte mit aller Macht bekämpfen werden muss.
Denn das Ziel solcher Bemühungen ist immer die vollständige Eliminierung dessen, was den Konzepten nicht dienlich ist und wir schließlich keiner Regeln und Verbote mehr von außen bedürfen, um ein schlechtes Gewissen zu bekommen und uns bereits bei der Begriffsbildung in unseren Gedanken zu zensieren. Heute trauen wir kaum noch dem treffenden Gebrauch der Sprache dieses gesunden Menschenverstandes, weil wir nicht ‘falsch’ verstanden werden wollen, wenn wir das Verhalten von Mitmenschen missbilligend als krank und behindert bezeichnen, obwohl es das tatsächlich ist.
Aber nicht im Sinne einer Abweichung von gesellschaftlich definierten Normen, denen wir uns verpflichtet oder im Sinne einer Gruppe, der wir uns verbunden fühlen oder einer Selbstüberhöhung, der wir uns hingeben, sondern im Sinne der unzweideutigen Moralgesetze mitmenschlichen Handelns, die dem gesunden Menschenverstand nämlich leicht zugänglich sind.
Umgangssprachlich gilt jemand als behindert, der gegen diese Gesetze verstößt, und zwar mit Recht, denn er spricht dem Adressaten gewisse Fähigkeiten und Selbstverständlichkeiten des mitmenschlichen Umgangs ab, die selbiger sich erlaubt und damit Grenzen verletzt, die gemeinschaftliches Miteinander aus einzigartigen Menschen erst ermöglichen. Um auch hier ein mögliches Missverständnis auszuschließen, die Grenzen des Erlaubten werden dem gesunden Menschenverstand nicht von Staat, Religion, Wissenschaft oder sonstigen menschengemachten Institutionen oder Lehren, also von außen auferlegt, sondern sie sind in selbigem eingewoben und Teil eines umfassenderen und stimmigeren Begreifens.
Gesunder Menschenverstand ist Werkzeug des Bewusstseins
Wir wollen nun das Konzept Behinderung aus der Perspektive eines moralischen Gesundheitsbegriffs betrachten. Dieser Versuch wird uns gleich zugänglicher, wenn wir in Rechnung stellen, dass unsere vorwiegend materialistischen Auffassungen von Krankheit durchaus ethische Kategorien kennen. Nehmen wir die Psychopathie, die Unfähigkeit, Mitgefühl zu empfinden, als Beispiel für eine hochgradige Behinderung, die in unseren gewöhnlichen Vorstellungswelten durchaus einheitlich als solche wahrgenommen wird.
Ist es nicht der Tatsache einer weit verbreiteten moralischen Gesundheit geschuldet, dass wir mitleidloses Verhalten nicht billigen, während wir aber keineswegs fähig sind, es als solches auch immer zu erkennen und beim Namen zu nennen, was wiederum als Ausdruck einer Behinderung gelten muss? Hier zeigen sich bereits die Grenzen unserer Begrifflichkeiten, die sich zwingend aus Grenzen unserer mentalen Konzepte ergeben, mit denen wir vertraut wurden, zu kartografieren und einzuordnen, was sich uns präsentiert.
Auf Wikipedia führt uns die Definition des Gesundheitsbegriffs weitgehend in die Irre oder vielmehr in die unübersichtliche Weite einer oberflächlichen Betrachtung, wenngleich sich ein bemerkenswertes Zitat von Friedrich Nietzsche eingeschlichen hat: „Gesundheit ist dasjenige Maß an Krankheit, das es mir noch erlaubt, meinen wesentlichen Beschäftigungen nachzugehen.“ Inmitten des stochastisch geprägten Definitionsumfeldes erscheint das Zitat wie eine blühende Blume auf einem ebenmäßig geschnittenen Rasen.
Für den Moment wollen wir aber in dem Ansinnen, die abgetragenen Begriffswelten des ausgehenden Zeitalters nicht mehr zu bemühen, einen moralischen Gesundheitsbegriff zu fassen versuchen, der sich auf Fähigkeiten wie Auffassungsgabe, schnellem Denken, gesundem Menschenverstand und Integrität gründet.
Auffassungsgabe
Mit der Lernmethode des Trivium lernen wir, Realität von Fiktion zu unterscheiden, denn sie beruht auf der Erkenntnis, wie wir lernen, während wir seit Jahrhunderten darin unterrichtet werden, was wir zu lernen haben. Lehrpläne an Schulen und Universitäten sind zum Verirren gefüllt mit Informationen, während wir kein mentales Werkzeug an die Hand bekommen, diese Informationen hinsichtlich ihrer Bedeutsamkeit und ihrer Stimmigkeit zu prüfen.
Das mag uns in diesen haltlosen Zeiten wie ein Anachronismus vorkommen, denn alle Welt klagt über Falschnachrichten, Deep Fakes und Meinungsmanipulation. Ein Blick in alternative Geschichtsforschung lehrt uns freilich, dass es nie anders gewesen ist, denn statt den Menschen geeignete Werkzeuge zur eigenverantwortlichen Unterscheidungsfähigkeit anzubieten, biedert sich dem bequemen und trägen Verstand des Gewohnheitsdenkers der Faktenchecker an, der unsere Zweifel für uns zu klären beansprucht, um das Denken wieder nachzurichten, denn dafür gibt es schließlich Nachrichten.
Das muss uns nicht wundern, denn Faktenchecker folgen ihrer geistigen Sozialisierung, in der unabhängiges und auf eigenverantwortliche Prüfung gerichtetes Denken schlicht nicht vorkommt. Stattdessen wird die Aufmerksamkeit auf DAS zu Lernende gerichtet: “Vertrauen Sie mir, vertrauen Sie der Bundesregierung.” Sicher, machen wir doch gerne, wenn wir uns nur nicht selbst mit dieser unübersichtlichen Komplexität der Macht des Faktischen auseinandersetzen müssen.
Mit dem wiedererwachten Interesse für das Trivium, ein zwangsläufiger Prozess auf dem zunächst immer wieder ermüdenden Weg, seinen Bewusstseinszustand auf einem dauerhaft wacheren Niveau zu halten, wird dieser Unterscheidungsprozess zurück in unsere Hände gegeben, denn es geht hier im besten Sinne des Wortes um das Begreifen, das geistige greifbar machen durch Begriffe. Hier ist zunächst äußerst viel Aufräumarbeit notwendig, um die rechte Klarheit wieder zu gewinnen, die der Auffassungsgabe ihre eigentliche Funktion verleiht, nämlich Nietzsche’s Wesentliches identifizieren zu können.
Schnelles Denken
Eine gute Auffassungsgabe ist ohne schnelles Denken nicht vorstellbar. Der Volksmund kennt eine Bezeichnung vom Gegenteil schnellen Denkens, nämlich die Begriffsstutzigkeit oder das “Schwer von Begriff sein”, was wir durchaus in unsere Sammlung von Erscheinungsformen einer Behinderung in unserem erweiterten Definitionsrahmen aufnehmen wollen. Nun ist aber das hier gemeinte schnelle Denken nicht nur das Gegenteil von Begriffsstutzigkeit, sondern es meint darüber hinaus ein eher zeit- und raumloses Gewahrsein, das über die Erscheinungen nicht als etwas außerhalb seiner selbst Stattfindendes denkt, sondern sich selbst als Teil davon begreift und folglich Ausdruck ganzheitlichen Wahrnehmens, Denkens und Handelns ist.
Schnelles Denken vermag zum Beispiel als Ergebnis außerordentlichen Gewahrseins vorwegzunehmen, was gleich gesagt werden wird, hat also eine telepathische Funktion, was im Austausch mit schnellen Denkern überraschende Wendungen hervorruft, wenn die Antwort der gestellten Frage vorausgeht. Ein weiterer Aspekt ist die natürliche Ordnung der Dinge, Voraussetzung für das schnelle Denken und Ausgangspunkt für eine stimmige Einordnung oder auch Bewertung eines geäußerten Gedankens. Mit größer werdendem Einverständnis und Begreifen der eigenen Eingebundenheit in etwas Größeres und vor allem Ganzes dürfte sich die geistige Reaktionsgeschwindigkeit beschleunigen und andersherum wieder dem Prozess des Begreifens neue Räume eröffnen.
Hat sich uns erst einmal erschlossen, dass der uns bekannte gesunde Menschenverstand größere Weiten zu überblicken vermag als der gelehrte Verstand, dann haben wir mit dem schnellen Denken bereits ein weiteres Kriterium für ein erweitertes Verständnis von geistiger Gesundheit und damit auch von Behinderung erworben, denn die Geschwindigkeit des Denkens in Verbindung mit der Stimmung zur Wirklichkeit gilt dann als Ausdruck vom Grad der Gesundheit.
Gesunder Menschenverstand
Viel gepriesen und wenig verstanden, sind wir begeistert von seinem Vorhandensein, während er den Gläubigen der verordneten und nur im zunehmenden Überwachungsmodus funktionierenden Systematik das Fürchten lehrt. Er gilt als unberechenbarer und deshalb besser auszuschließendes Moment einer Energie, die der behinderte Geist zu kontrollieren sucht, weil es die klinische Welt des Gottlosen gefährdet und sie immer wieder an ihre Grenzen bringt.
Der gesunde Menschenverstand wird belächelt, diskreditiert oder bekämpft, je nach Gefahrenlage, die von ihm ausgeht, vor allem wird er gern in die Richtung der mangelhaften Bildung gedrängt, was ja sogar insoweit stimmt, wie Bildung Ausdruck von geschulter Verwirrung und Gedanken kontrollierendem Zwang zur Anpassung an gegen jede Erfahrung gerichtete Systematiken ist. Dabei ist er vielmehr Ausdruck eines Restvermögens von Anbindung an und Verbindung mit einem Lebensgefühl, das sich immer auch in der Begegnung mit dem Anderen und der Gemeinschaft spiegelt und Wohlbefinden in Ruhe und Frieden findet; jemand mit gesundem Menschenverstand kennt diese Qualitäten bereits aus dem irdischen Leben und erwartet sie nicht erst nach dem Ableben seines Leibes, wie die Kirche denen zu vermitteln sucht, die ihn misstrauisch aus dem eigenen Erleben ausschließen.
Integrität
Nehmen wir den integren und somit heilen Menschen als Ausgangspunkt für eine weitergehende Entwicklung seines Bewusstseins, seiner Um- und Einsicht in kosmische Zusammenhänge und seines Vorstellungsvermögens eines friedlichen Miteinanders menschlicher Vielgestaltigkeit, dann werden wir dem Begriff Behinderung nicht nur die oben genannten Grundlagen seiner Definition zuordnen. Wir werden ihn erweitern müssen um die Begrenzungen unseres Bewusstseins, die uns nötigen, nicht integer sein zu können.
Integrität zeigt sich nämlich vielmehr in der Stimmigkeit von Wahrnehmen, Denken und Handeln des heilen oder auf dem Wege der Heilwerdung befindlichen Menschen, und zwar auch und insbesondere in einem krankhaften, haltlosen. manipulativen und selbstzerstörerischen Umfeld. Sie fristet allerdings ein Dasein des Außergewöhnlichen, des niemals Erreichbaren und auch gar nicht Erstrebenswertem, denn es geht für den Gewohnheitsdenker allenfalls um die Entwicklung seiner Anpassungsfähigkeit.
Würde unsere Sozialisierung die Entwicklung der Integrität zu einem wesentlichen pädagogischen Inhalt machen, würde unsere Psychotherapie nicht darauf abzielen, den Menschen passfähig für kranke Systematiken, sondern ihn vertraut machen mit seiner Menschwerdung und Integrität und würden wir sein Bemühen darum beim Anderen in Wohlwollen anerkennen können, dann wäre alles diesem Konzept hinderliche eben Ausdruck dessen, was Behinderung in seiner Bedeutung auch eigentlich beschreibt, nämlich unheile Aspekte unseres gegenwärtigen Menschseins.
Auflösung von Behinderung
Die zuvor geschilderten mentalen Ebenen geistig-seelischer Gesundheit reichen nicht nur weit über unser gewöhnliches Konzept von Behinderung hinaus, sondern sie relativieren seine Kategorien in dem Maße, in dem wir das Bemühen um ‘Gleichstellung’, also den Anspruch auf Gleichheit und Gleichberechtigung aller Menschen abzulegen vermögen. Dass vor dem Gesetz jeder gleich sei, haben wir zu einer Pseudomoral erhoben, ohne zu bemerken, dass wir uns menschengemachten Gesetzen zu unterwerfen trachten, die unser natürliches Moralempfinden mitunter vergewaltigen und uns davon zunehmend entfremdet haben.
Das Gegebene wird nicht mehr hinterfragt, weil es uns als unter schweren Kämpfen Erworbenes erscheint, bei dem sich letztlich das Rechte und Richtige durchgesetzt hat. Wir identifizieren uns so sehr mit unserer Normalität, dass wir die Enge des Raumes denkerischer Möglichkeiten kaum noch gewahr sind. Die uns vermittelten Konzepte von Wirklichkeit sind zu unserer Realität geworden und es gibt daraus kein Entrinnen für den Gewohnheitsdenker. Er ist vielmehr bereit, diese Konzepte gegen jeden geglaubten Angriff zu verteidigen, weil er insgeheim fühlt, dass sie auf seine Ängste und Traumen aufbauen, die ihn daran hindern, den notwendigen Schritt einer geistigen Reifung aus seiner Kinderwelt wagen zu können.
Und ist der erste Schritt getan, dann ist die Verlockung groß, sich gleich im nächsten Labyrinth von Konzepten und Konstrukten zu verlieren, denn wir beginnen erst nach vielen Ent-Täuschungen zu begreifen, dass es etwas gibt, das wir schon immer kennen und das sich als bereichernder Wegweiser zur Unterscheidung erweist, sich nicht täuschen lässt und uns auch nicht verlässt. Mit diesem Bewusstsein lässt sich der Blick zwar lenken, aber nie auf eine zu verallgemeinernde Art, wenngleich es viele Schlüssel gibt, mit denen ganz bestimmte Türen und Tore geöffnet werden können.
Fazit
Wir kennen die Behinderung eines kognitiven Entwicklungsrückstandes, die uns vermitteln will, jemand sei entwicklungspsychologisch zurückgeblieben und auf dem Niveau eines Kindes, finden es aber unvorstellbar, dass wir von höherer Warte aus ebenfalls als zurückgeblieben erscheinen können. Die schiere kollektive Masse an Zurückgebliebenheit in allen gesellschaftlichen Schichten suggeriert uns Sicherheit, wenn wir diese Momente der Ohnmacht, Angst und Verwirrtheit beiseite schieben und uns gewöhnlichen Gedanken widmen.
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