Wer einen erheblichen Teil seines wachen Tages im Verwaltungsapparat einer Behörde verbringt und dabei noch gute Stimmung hat, der muss definitiv auch gute Gründe dafür haben.
Ist er mit außergewöhnlich humorvollen Blickwinkeln gesegnet? Vermag er für ihn Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden?
Vielleicht kümmert ihn das Wohlergehen der Welt im Allgemeinen und insbesondere das seiner Klienten und ebendies versetzt ihn in gute Laune.
Jedenfalls scheint es etwas besonders Wirkungsvolles zu sein, das auf uns Kollegen gleichermaßen Einfluss nimmt, wie auf unsere Klienten und Arbeitgeber.
Eine gute und positive Stimmung.
Und das trotz der ganzen Rahmenbedingungen unserer Sozialgesetzgebung, für die uns angeblich der Rest der Welt beneidet.
Man möchte sich ja oft genug schämen für das, was man hört, liest oder aus nächster Nähe erlebt.
Aber das schütteln wir Gutgelaunten ab, wenngleich wir oft zweifeln, ob man jemandem nicht mal richtig den Marsch blasen müsste.
Aber zum einen ändert sich die Haltung nicht durch Kritik von außen und zum anderen ist es wesentlich wirksamer, Scharmützeln aus dem Wege zu gehen.
Warum? Wir erreichen einfach mehr.
- Du gewinnst Zeit, in der die Türen noch offen stehen und Dir gute Ideen kommen können.
- Du wirst nicht von Deinen Emotionen geflutet und stößt mit Deinen Reaktionen andere vor den Kopf.
- Im Verwaltungsgetriebe bist Du auf das Wohlwollen vieler Leute angewiesen, damit Du Dir einiges erlauben kannst.
Wir kommen in Kontakt mit so vielen verschiedenen Menschen, Klienten und Kollegen.
Wieso sollten wir mit irgendeinem von ihnen nicht auskommen?
Sicher, es gibt viele Gründe, man ist ja selbst nur Mensch.
Aber irgendwie ist doch jeder bestrebt, sinnstiftend tätig zu sein.
Und an dieser Stelle kommt es nicht selten zur Verantwortungsverschwörung.
Viele von uns sind bemüht, im Kontakt mit ihren Klienten Mitmenschlichkeit zu etablieren.
Mitmenschlichkeit als handlungsleitendes Prinzip ist uns eigentlich in die Wiege gelegt.
Wir verlernen sie mehr oder weniger im Laufe unserer Sozialisation und Erziehung.
Aber die meisten von uns erkämpfen sie sich im Laufe ihres Lebens zurück.
Gehört die Mitmenschlichkeit in einer Verwaltungsbehörde, insbesondere in einer Sozialbehörde nicht ins Leitbild formuliert?
Weil die Behörde, die mich beschäftigt, vielfach von den Steuergeldern derer mitfinanziert wird, die mir ebendort als meine Klienten begegnen.
Wie kommt es nun zur Verantwortungsverschwörung?
In den vergangenen Jahren seit der sogenannten Reform der Sozialgesetzgebung wurde Hartz IV zu einem „alternativlosen” Instrument globaler Umverteilung installiert.
Millionen von Menschen wurden darin eingebunden und selbst wenn sie Hartz IV verlassen, leben sie mit ihrem Einkommen am Rande des Minimums.
Natürlich wird niemand für seine Mittellosigkeit persönlich verantwortlich gemacht. Oder fast niemand.
Die politische Elite und mit ihr sämtliche Mainstream-Medien erklärten uns aber die Alternativlosigkeit ihrer Reform auf die Entwicklung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Kräfte.
Dass die Vielen immer weniger haben wurde tausendfach zum Naturgesetz erklärt.
Und wer kann sich schon den Wirkungen der Naturgesetze entziehen?
Wie bekommen wir als Mitarbeiter unser Bedürfnis nach sinnstiftender Tätigkeit nun in den Rahmen dieses „Naturgesetzes” eingepasst?
Der Prozess der Verantwortungsverschwörung macht es möglich.
In der Psychologie nennt man die Technik, die einen zum Verantwortungsverschwörer macht die Reduktion kognitiver Dissonanz.
Wir erfinden Erklärungen, mit denen wir uns „ein X für ein U vormachen”.
Widersprüchlichkeiten und Unstimmigkeiten lösen wir dadurch auf, dass wir selbst dort Sinnhaftigkeit suchen, wo sämtliche Tatsachen gegen unsere Erklärungen sprechen.
Selbst wenn wir der Verantwortungsverschwörung ein Schnippchen schlagen wollen und alles weglassen, was zu weiterer Entmenschlichung unserer Klienten führt, bleiben wir Teil des Apparates, der den Druck des Systems aufrecht erhält.
Im Grunde gibt es kein Entrinnen aus diesem Widerspruch.
Sicher, wir Mitarbeiter könnten uns einen neuen Job suchen, aber wir haben handfeste und sicherlich auch wenig schmeichelhafte Gründe dafür, das nicht zu tun.
Also verlegen wir uns darauf, uns wenigstens nicht zum Komplizen der Verantwortungsverschwörung zu machen.
Uns selbst und andere immer wieder davon zu überzeugen, dass diese Sozialbehörde auch ihr Gutes hat.
Nein, glücklicherweise müssen wir weder uns selbst, noch irgendwem sonst derlei Bären aufbinden.
Geschweige denn wirklich daran glauben.
Viele von uns haben einen wachen Geist und eine ungetrübte Wahrnehmung.
Infolgedessen wissen wir, worum es in unserer Behörde geht.
Und deshalb können wir uns auch nicht durch aktive Mitwirkung an der Verantwortungsverschwörung beteiligen.
Ich für meinen Teil verbleibe in der Rolle dessen, der einen Sinn in all dem sieht, ohne ihn billigen zu müssen.
Ich erlaube mir, das Große und Ganze soweit es meinem Begreifen zugänglich ist, nicht auszublenden.
Und ich erlaube mir, eine Kommunikation zu pflegen, die meinen Arbeitgeber nicht diskreditiert, aber für meinen Klienten eine Entlastung oder einen Gewinn bedeuten kann.
Aber wie sagte der Radiojournalist Ingo Kahle: Eine Mücke soll sich nicht zum Elefanten machen.
So ganz und gar werden wir uns der Verantwortungsverschwörung gleichwohl nicht entziehen können.
Jeder von uns möchte halbwegs glauben können an das, was er tut.
Es muss in gewissem Maße Sinn machen und vor allem mit einer Haltung vereinbar sein, die wir nicht täglich in Frage stellen müssen.
Daher finden wir Erklärungen, die das auch als richtig erscheinen lassen, was wir tun.
Wenn wir uns zum Beispiel mit dem Klienten darüber einig sind, dass der Mindestlohn wirklich eine gute Sache ist.
Da durch den Mindestlohn die Nebenwirkungen der sozialen Marktwirtschaft und des Globalismus ein wenig abgefedert werden.
Man muss das mal auf sich wirken lassen:
Wir wählen Politiker, die ein System installieren oder erhalten, das fast allen von uns mehr schadet als nützt.
Und dann wollen wir erkennen, dass dieselben Politiker uns vor den Wirkungen dieses Systems schützen.
Wir kommen mit unseren Klienten überein, dass hier wohl Kräfte wirken, auf die wir keinen Einfluss haben.
Denen wir uns stellen müssen. Da muss man halt das Beste draus machen.
Und im Handumdrehen wird aus der Übereinkunft eine Verantwortungsverschwörung.
Die Medienberichterstattung in den MSM sowie die Wissensvermittlung in Schulen und Universitäten nährt sie nach Kräften.
Die Komplexität der Zusammenhänge, die vielen verschiedenen Interessenlagen …
Wir sind nicht klug genug, nicht qualifiziert genug oder uns fehlt schlicht die Einsicht in das Große und Ganze.
Und wir werden uns nicht erlauben, unseren Augen und Ohren zu trauen. Zu unserem wahrhaftigen Gefühl zu stehen.
Wir lassen unsere Interessen lieber von wirklich klugen, wirklich qualifizierten und wirklich umsichtigen Leuten vertreten.
Wir tragen unseren Teil zum Gelingen des Großen und Ganzen bei, indem wir uns gegenseitig unserer Beschränktheiten und Unzulänglichkeiten versichern.
Ganz nach dem Motto Schuster, bleib bei deinem Leisten.
Willkommen in der Verantwortungsverschwörung.
Werfen wir einen Blick auf die häufigsten Verschwörungs-Konstellationen:
1. Mitarbeiter: Verschwörer | Klient: Verschwörer
Eine Zusammenstellung, in der sich zwar beide blendend verstehen, aber nur wenig begreifen.
Mitarbeiter und Klient werden sich weitgehend einig sein, oder doch wenigstens in genau dem Rahmen kontrovers diskutieren, der durch Politik, MSM, Wissenschaft und Kultur legitimiert ist und nicht sanktioniert wird.
Beide halten die ihnen vermittelte Wirklichkeit für diejenige, die sie zu sein scheint.
Sie haben keine Fragen, wenn sie Begriffe wie Mindestlohn, Grundsicherung oder Sanktionstatbestand hören.
Sie sind eine verschworene Gemeinschaft und handeln ein vernünftiges Ergebnis im Rahmen des SGB II aus.
Weder von Klienten noch von Mitarbeitern wird man Klagen hören, denn für beide Gruppen herrscht Ordnung und Gerechtigkeit.
2. Mitarbeiter: Freigeist | Klient: Freigeist
Auch hier wieder eine Zusammenstellung von Gleichgesinnten.
Sowohl Mitarbeiter als auch Klienten kennen die Tricks, mit denen uns eine Ordnung verkauft wird, die den Vielen wenig dient.
Beide Gruppen brauchen wenig Worte, um sich darüber zu verständigen.
Beide haben aber auch eine Ahnung von den Grenzen ihrer Möglichkeiten und sie finden Wege, sich darin zu arrangieren.
Man spricht eine ähnliche Sprache und kommt sich entgegen, wo man es für geboten hält.
Eigentlich sehr schön, was daraus erwächst, denn Leben ist Begegnung und das Wohl des anderen bereichert einen auch selbst.
3. Mitarbeiter: Verschwörer | Klient: Freigeist
Stellt unser Klient ganz vernünftige Fragen oder macht ebensolche Lebensäußerungen und sind wir Verantwortungsverschwörer, dann werden wir ihm vermutlich Erklärungsangebote machen, die er ganz und gar nicht billigen kann.
Denn sie beschreiben die Zusammenhänge unzutreffend oder doch wenigstens beschönigend.
Wir als sein persönlicher Ansprechpartner sind Opfer der Verantwortungsverschwörung, ohne uns dessen bewusst zu sein.
In dieser Konstellation werden wir als Opfer zum Täter und manch einer versucht nun denjenigen, dessen Geist wesentlich freier und unbefangener funktioniert, mit seinen Verschwörungsthesen niederzuringen.
Ich halte das für den häufigsten Grund, warum Klienten uns als Behördenvertreter Misstrauen entgegen bringen.
Unsere Klienten hüten sich davor, mit uns offen zu sein.
Da müssen wir schon einiges in Vorleistung gehen, damit von ihnen etwas zurückkommt.
Machen wir uns in einem Gespräch frühzeitig zum Verantwortungsverschwörer, dann offenbaren wir mangelhafte Kenntnisse über die Funktionsweise des Systems.
Sehr unangenehm, wenn unser Klient uns bei der Verantwortungsverschwörung ertappt.
Dann bedarf es schon einigen Mutes, sich nicht zum Missbrauch seiner Mittel verführen zu lassen.
Das Phänomen dürfte jedem von uns bekannt sein.
Viele von uns dürften auch das schlechte Gewissen kennen, dieser Verführung auf den Leim gegangen zu sein.
Notfalls muss man sich halt zu seiner Schwäche bekennen. Tut nur bei den ersten Malen weh.
Was aber, wenn der Klient Opfer einer Verantwortungsverschwörung ist?
4. Mitarbeiter: Freigeist | Klient: Verschwörer
Ich habe ja bereits an anderer Stelle behauptet, 95 % unserer Klienten sind grundanständig und mögen es, wenn sie respektiert und wertgeschätzt werden.
Sie passen sich den Entwicklungen an, ordnen sich unter und wollen zeigen, dass sie dazu gehören … zur Menschenfamilie.
Ein häufiges Beispiel sind die vielen Hartz-IV-Empfänger mittleren oder fortgeschrittenen Alters.
Sie haben in ihrer Berufsbiografie noch Zeiten erlebt, in denen sie mit ihrem Einkommen ihre Familie zu ernähren vermochten.
Was früher Normalität war, ist heute die Ausnahme.
Die Einkommen der Vielen sind in den letzten 25 Jahren definitiv gesunken.
Gleichwohl begegne ich heute kaum noch einem Klienten, der nicht für einen Bruttolohn von 10 Euro / Stunde eine Arbeit aufnehmen würde.
Die Menschen sind bescheiden geworden und nicht nur das. Sie
- glauben an das, was ihnen in den letzten Jahrzehnten tausendfach erklärt und vorgerechnet worden ist
- haben ihr Schicksal des Unausweichlichen angenommen
- haben verstanden, dass diese Entwicklung das Ergebnis der unvermeidbaren „Globalisierung” ist
Und sie haben verinnerlicht, dass es ihnen hier sogar recht gut geht.
Denn ihr Blick wird fortwährend auf Menschen gelenkt, deren Heimatländer angeblich keine funktionierenden Sozialsysteme haben.
Sie begreifen sogar den Mindestlohn als eine Errungenschaft sozial wirkender Kräfte in unserer Politik und Gesellschaft.
Ich widerspreche ihnen nicht, denn sie müssen selbst darauf kommen …
Manche Dinge sind nicht so, wie sie uns auf den ersten Blick erscheinen.
Ich betreibe keine politische Aufklärung im Jobcenter, weil niemand annehmen kann, was er nicht bereit ist zu erkennen.
Es käme mir auch so vor, als würde ich meine Klienten aufhetzen, statt selbst etwas zu riskieren.
Aber ich widerspreche auch niemandem, der den Mut hat, mir seine Sicht auf die Dinge mitzuteilen und sich dabei dem Denken des mainstream entzieht.
Vielmehr ermuntere ich ihn, sich seine Haltung zu bewahren und dafür einzustehen.
Man ist mit seiner Haltung niemals allein, ist niemals der Einzige.
Und das Gefühl von Solidarität führt zwangsläufig dazu, dass Menschen ihre Selbstwirksamkeit wieder entdecken.
Fazit
Es kommt nicht von ungefähr, dass Hartz IV in unseren Medien kaum noch kontrovers diskutiert wird.
Sämtliche Kritik richtet sich nicht mehr gegen das Grundsätzliche dieser Ordnung.
Unsere Sozialgesetzgebung wurde vollständig in das gesellschaftliche Bewusstsein integriert und es wird widerstandslos hingenommen.
Ob es sich um die Angemessenheit einer Anpassung der Regelsätze um 5-15 Euro oder die Abschaffung der Sanktionen für über 50jährige handelt:
An dem Rahmen, in dem über Hartz IV diskutiert werden darf, wurde jahrelang medial geschliffen.
Und wir haben gelernt, unsere Ansprüche an ein gutes Leben vor dem Hintergrund des „realpolitisch Machbaren” zu beurteilen.
Wenn das keine Verantwortungsverschwörung ist …
Ghania Ibelaidene meint
Ihre Artikel sollten Pflichtlektüre für Behördenleiter und Politiker sein. Oder besser: die Herrschaften empfangen einmal selbst den vermeintlichen Segen Hartz IV
Michael meint
Man könnte meinen, Empathie und Führungsverantwortung schließen einander aus, insbesondere in behördenähnlich organisierten Strukturen. Es gibt aber schätzenswerte Ausnahmen.